Jean Paul: Die Macht der Baukunst

Wolfgang Sofsky
Jean Paul: Die Macht der Baukunst

Kuppel des Petersdom

Eine der Schlüsselkategorien für die Analyse sinnlicher Überwältigung, eines zentralen Mechanismus kultureller Macht, dürfte ein kritischer Begriff des Erhabenen sein. Überwältigung kann heißen: Besetzung des Wahrnehmungsfeldes, Tilgung von Abstand, von rettender Distanz,  Schließung des Horizontes. Es kann aber auch bedeuten: Bann und Entgrenzung. In beiden Fällen wird die Person in eine sinnlich totale Situation gezogen, die keinen Ausweg läßt. Auch Versuche einer perzeptiven und kognitiven Anpassung können diesem „Zwang“ nicht entgehen, ja, es hat den Anschein, als geriete die Person immer weiter hinein. Eine bemerkenswerte Schilderung  einer Entgrenzung angesichts erhabener barocker Baukunst findet sich in Jean Pauls „Titan“. Der Dichter, die nie italienischen Boden betreten hat, in Fragen des Erhabenen aber weithin bewandert war, imaginiert den Gang über den Petersplatz bis unter die Kuppel des Doms, nicht ohne einen kleinen Grundsatzdiskurs über das Erhabene einzuflechten.

„Mit dem Durchgang durch die Peterskirche fing der Ritter den schönen Lauf durch die Unsterblichkeit an. Die Fürstin ließ sich von der Kunst mit dem Männer-Kreise verbinden. Da Albano mehr von Gebäuden als von jedem anderen Kunstwerk ergriffen wurde: so sah er mit heiligem Herzen von weitem das lange Kunst-Gebürg, das wieder Hügel trug — und so trat er von der Ebene,  um welche zwei ungeheuere Kolonnaden wie Korsos laufen, ein Volk von Statuen tragend; in der Mitte steigt der Obeliskus und zu seiner Rechten und Linken ein ewiges Wasser auf, und von den hohen Stufen schaut die stolze Kirche der Welt, innen mit Kirchen besetzt, auf sich einen Tempel gen Himmel reichend, auf die Erde herunter. — Aber wie waren in der Nähe ihre Säulen und ihre Felsenwand ungeheuer aufgestiegen und flohen den Blick!

Er trat in die Zauberkirche, die der Welt Segen, Fluch, Könige und Päpste gab, — mit dem Bewußtsein, daß sie wie das Weltgebäude sich immer mehr erweitere und entferne, je länger man in ihr ist. Auf zwei Kinder von weißem Marmor, die eine Weih-Muschel von gelbem hielten, gingen sie hin; die Kinder wuchsen durch das Nahen, bis sie Riesen waren. Endlich standen sie am Hauptaltar und dessen hundert ewigen Lampen — welch eine Stelle! — Über sich das Himmelsgewölbe der Kuppel, auf vier innern Türmen ruhend, um sich eine überwölbte Stadt von vier Straßen, worin Kirchen standen. — Am größesten wurde der Tempel durch Gehen; und wenn sie um eine Säule traten, so lag ein neuer vor ihnen, und heilige Riesen schaueten ernst herab. — Hier wurde dem Jüngling nach langer Zeit das große Herz gefüllt: »In keiner Kunst« (sagt‘ er zu seinem Vater) »wird die Seele so gewaltig vom Erhabnen angefasset als in der Baukunst; in jeder andern steht der Riese in ihr und in den Tiefen der Seele, aber hier steht er außer und dicht vor ihr.« — Dian, dem alle Bilder deutlicher waren als abstrakte Ideen, sagte: »Er hat vollkommen recht.« — Fraischdörfer versetzte: »das Erhabene stecke auch hier nur im Kopfe, denn die ganze Kirche stehe doch in etwas Größerem, nämlich in Rom und unter dem Himmel, wobei wir ja nichts empfänden.« Auch klagt‘ er, »daß dem Erhabnen der Platz in seinem Kopfe sehr verengt werde durch die unzähligen Schnörkel und Monumente, die der Tempel zugleich mit sich in ihn hineintreibe«. Gaspar nhm alles mit einem großen Sinne nehmend: »Steht nur einmal das Erhabene wirlich da, so verschlingt und vertilgt es eben seiner Natur nach all um sich her.« Er führte zum Beweise den Münsterturm und die Natur selber an, die durch ihre Gräser und Dörfer nicht kleiner werde. Die Fürstin genoß unter so vielen Kunstverständigen schweigend….“ (Jean Paul, Titan, 104.Zykel)

Erhabene Architektur gleicht den überwältigenden Eindrücken, welche die Natur bereithält: dem Hochgebirge, der unendlichen Ebene, dem Ozean, dem Himmel. Die literarische Beschreibung verwandelt den überwältigenden Eindruck jedoch in eine zeitliche Passage. Mit jedem Schritt vergrößern sich die Objekte, aus Kindern werden Riesen, aus der Kuppel ein Himmelsgewölbe, aus Säulen Türme, aus Kapellen Kirchen, aus Seitenschiffen Straßen, etc. Jean Paul schildert eine sukzessive Steigerung ins Gigantische, Unendliche, die alles andere mit sich reißt, jedes Detail verschlingt. So statisch das Bauwerk, so reichhaltig der Innenraum, im Fortgang der Bebachtung und Beschreibung gewinnt der Dom an Monumentalität. Dabei ist, so scheint es, die Überfülle der „Schnörkel“ selbst ein Aspekt des Erhabenen. Nicht nur schiere Größe, Höhe, Weite, sondern auch die Fülle der Pracht ist ein Merkmal für Objekte, die nicht nur als erhaben vorgestellt oder erlebt werden, sondern erhaben sind und als solche konstruiert, inszeniert, ausgestattet werden.