La Bruyère: Über die Diplomatie

Jean de la Bruyere

La Bruyère: Über die Diplomatie

Ende des 17. Jahrhunderts verfaßte Jean de La Bruyère „Die Charaktere oder Die Sitten des Jahrhunderts“, ein umfassendes Tableau der Gesellschaft und Politik seiner Zeit, der menschlichen Neigungen, Gebräuche und Unsitten. Er studierte und beobachtete seine Zeitgenossen am Hof, in der Stadt, im Salon und schildert in kräftigen Strichen das Allgemeine im Einzelnen. Auch über die Diplomatie finden sich scharfsichtige Beobachtungen. Sie sind geeignet, treuherzige Vorstellungen von runden Tischen, einvernehmlichen Erklärungen, hoffnungsfrohen Verlautbarungen oder verbindlichen Verabredungen auf den Boden der politischen Tatsachen zurückzuholen. Und sie lassen die Floskel, es gebe in der Politik nur eine diplomatische Lösung, als das erscheinen, was sie ist, eine Floskel.  Hier einige Auszüge:

„Ein Gesandter ist ein Chamäleon, ein Proteus. Einem geschickten Spieler gleich, läßt er sich oft nichts von seiner Laune und Stimmung anmerken, sei es, um nicht Ursache zu Vermutungen zu geben oder durchschaut zu werden, sei es, um nicht aus Leidenschaft oder aus Schwäche etwas von seinem Geheimnis zu verraten. Dann wieder weiß er, eine Gemütsverfassung vorzutäuschen, die seinen Absichten und den Erfordernissen seiner Lage völlig angepaßt ist, und den anderen weiszumachen, er sei wirklich so, wie er erscheint….

Er weiß in klaren und bestimmten Ausdrücken zu sprechen; noch besser aber versteht er, doppelsinnig und dunkel zu reden, zweideutige Wendungen und Worte zu gebrauchen, die er je nach Gelegenheit und eigenem Interesse zu seinen Gunsten auslegen oder abschwächen kann. Er verlangt wenig, wenn er nicht viel geben will, er verlangt viel, um einiges um so sicherer zu erhalten. Er fordert anfangs nur geringfüfige Dinge, die er später als belanglos hinstellen kann und die ihm dann gestatten, etwas Bedeutendes zu fordern; er ist klug genug, auf eine wichtige Sache zu verzichten, wenn sie ihm dabei hinderlich wird, sich mehrere andere von minderem Belang zu verschaffen, die zusammen die erste aufwiegen….

Er macht verstellte Anerbieten von so außerordentlichem Ausmaß, daß sie Mißtrauen erwecken und den anderen dazu zwingen auszuschlagen, was anzunehmen soch sinnlos scheint; die ihm jedoch erlauben, selbst übertriebene Forderungen zu stellen und die ins Unrecht zu setzen, die sie ablehnen. Er gibt mehr als man von ihm verlangt, um noch mehr zu erhalten, als er gewähren muß….

Er spricht nur von Frieden, Bündnis, öffentlicher Ruhe, öffentlichem Interesse; in Wahrheit denkt er nur an die eigenen, das heißt an die Interessen seines Gebieters oder seiner Regierung. Bald eint er die Verfeindeten, bald entzweit er die Verbündeten. Die Starken und Mächtigen schüchtert er ein, die Schwachen ermutigt er. Es gelingt ihm, mehrere Schwache aus gemeinsamen Interessen gegen einen Mächtigeren zu vereinigen, um das Gleichgewicht herzustellen; alsdann verbindet er sich mit ihnen, legt sein Gewicht in ihre Waagschale und läßt sich seinen Schutz und sein Bündnis teuer bezahlen….

Er setzt falsche Gerüchte in Umlauf, indem er immer nur von seiner förmlichen Mission spricht, während er daneben besondere Vollmachten hat, von denen er aber immer nur im äußerten Falle Gebrauch macht und in Augenblicken, wo es ihm gefährlich würde, sie nicht in Anwendung zu bringen. Seine Ränke sind überhaupt immer auf das Wesentliche gerichtet, und immer ist er bereit, Nebensächliches und äußerliche Ehrenpunkte dafür zu opfern. Er läßt sich durch nichts rühren; er wappnet sich mit Ausdauer und Geduld, ermüdet nie, macht vielmehr die anderen matt und treibt sie bis zur Entmutigung….

Er geht sogar so weit, ein heimliches Interesse am Abbruch der Verhandlungen zu heucheln, wenn er besonders heftig wünscht, daß sie fortgesetzt werden; soll er hingegen auf ausdrückliche Weisung alles tun, damit sie sich zerschlagen, so hält er es für richtig, auf deren Fortsetzung und Abschluß zu drängen…

All seine Entwürfe, all seine Grundsätze, alle Feinheiten seiner Staatskunst sind auf ein einziges Ziel gerichtet: nie hintergangen zu werden und die andern zu hintergehen“