Montesquieu: Über den Niedergang der Demokratie

Montesquieu: Über den Niedergang der Demokratie

Im „Geist der Gesetze“ von 1748 unterscheidet  Montesquieu bekanntlich drei Formen der Regierung, die Republik (ob Demokratie oder Aristokratie), die Monarchie und die Despotie. In der Republik haben entweder das Volk oder einige Familien die souveräne Macht inne. Stets untersteht hier die Regierung indes dem Gesetz. Wenn aber in einer Volksregierung die Gesetze nicht mehr gelten, ist der Staat verloren. Gefahr droht der Demokratie indes auch von übertriebener Gleichheit. Hierzu führt Montesquieu im 2. Und 3.Kapitel des achten Buches Näheres aus:

„2. Über die Entartung des Prinzips der Demokratie

Das Prinzip der Demokratie entartet nicht allein, wenn der Geist der Gleichheit abhanden kommt, sondern auch, wenn sich der Geist übertriebener Gleichheit breit macht. Jeder will dann denen gleich sein, die er zum Befehlen gewählt hat. Von da an vermag das Volk die Macht, die es verleiht, selbst nicht mehr zu ertragen; es will alles selber machen, an Stelle des Senats beratschlagen, an Stelle der Beamten handeln und alle Richter entthronen.

Dabei kann in der Republik nicht mehr länger Tugend herrschen. Das Volk maßt sich die Funktion der Beamten an, man achtet sie also nicht mehr. Die Beratungen des Senats haben kein Gewicht mehr, die Senatoren genießen also kein Ansehen mehr und folglich die Greise auch nicht. Wenn man keine Achtung mehr vor den Greisen hat, wird man vor den Vätern erst recht keine haben. Die Ehemänner werden keiner Zuvorkommenheit mehr wert befunden, die Meister keiner Unterordnung. Es kommt so weit, daß alle diese Liederlichkeit lieben. Man findet die Last des Befehlens genauso mühsehlig wie die Last des Gehorsams. Frauen, Kinder und Sklaven ordnen sich niemand mehr unter.  Keine Sittsamkeit wird mehr herrschen, keine Liebe zur gesetzten Ordnung und zu guter Letzt keine Tugend mehr.

In Xenophons Gastmahl bekommt man ein ungeschminktes Bild von einer Republik, deren Bevölkerung die Gleichheit übertrieben hat. Jeder Zechgenosse gibt der Reihe nach den Grund seiner Zufriedenheit an. „Ich bin zufrieden“, sagt Charmides, „weil ich arm bin. Als ich reich war, war ich gezwungen, Verleumdern den Hof zu machen, wohl wissend, daß sie mir mehr Übles antun konnten als ich ihnen: die Republik hat immer wieder neue Summen von mir verlangt, und ich konnte nicht wegziehen. Seit ich arm bin, habe ich an Würde gewonnen. Mich bedroht niemand; ich bedrohe die anderen. Ich kann gehen oder bleiben. Die Reichen erheben sich vor mir schon von ihren Plätzen und lassen mir den Vortritt. Ich bin ein König, ich war ein Sklave. Früher zahlte ich der Republik Steuern, jetzt ernährt sie mich. Ich fürchte nicht mehr, etwas einzubüßen; ich hoffe zu bekommen.“

Diesem Unglück fällt das Volk anheim, wenn die Männer seines Vertrauens es zu korrumpieren suchen, um ihre eigene Korruption zu verbergen. Sie sprechen ihm nur von seiner Größe, damit es ihren Ehrgeiz nicht sieht. Sie reizen unaufhörlich seine Habgier, damit es ihre eigene Habgier nicht wahrnimmt.

Die Verderbnis nimmt unter den Verderbern zu und nimmt unter den bereits Verdorbenen zu. Das Volk teilt dann alle Staatsgelder unter sich auf. Es hat die Erledigung aller Staatsgeschäfte seiner Faulenzerei vorbehalten und möchte nun seiner Armut die Vergnügungen des Luxus vorbehalten. Das alleinige Ziel seiner Wünsche kann aber bei seiner Faulenzerei und seinem Luxus nur der Staatsschatz sein.

Man darf dann nicht überrascht sein, daß die Wahlstimmen für Geld vergeben werden. Man kann aber dem Volk nicht viel geben, ohne ihm noch mehr zu entziehen. Um ihm aber etwas zu entziehen, muß man den Staat umwälzen. Je mehr Vorteil es aus seiner Freiheit zu ziehen scheint, desto eher nähert es sich dem Zeitpunkt des Verlustes seiner Freiheit. Viela kleine Tyrannen mit allen Lastern eines alleinigen kommen hoch. Bald werden die letzten Reste der Freiheit eine Last. Ein Einzeltyrann setzt sich durch, und das Volk verliert alles, bis hin zu den Vorteilen, die es aus seiner Korruption zog.

Die Demokratie hat also zwei Ausartungen zu vermeiden: den Geist der Ungleichheit , der zur Aristokratie oder zur Ein-Mann-Regierung führt, sowie den Geist übertriebener Gleichheit, der sie zum Despotismus eines einzelnen führt, genauso wie der Despotismus eines einzelnen schließlich durch durch die Eroberung endet…

3. Über den Geist übertriebener Gleichheit

Der Geist der Gleichheit ist vom Geist der übertriebenen Gleichheit so weit entfernt wie der Himmel von der Erde. Der erstere besteht nicht einfach darin, daß alle Leute befehlen beziehungsweise daß keiner sich etwas befehlen läßt, vielmehr darin, daß man Gleichgestellten gehorcht und befiehlt. Er strebt nicht danach, ohne Herrn zu leben, sondern niemand außer seinesgleichen zum Herrn zu haben.

Zwar kommen im Naturzustand die Menschen in Gleichheit zur Welt, doch können sie nicht darin verbleiben. Durch die Gesellschaft verlieren sie ihre Gleichheit. Erst durch die Gesetze werden sie wieder gleich.

Folgender Unterschied besteht zwischen einer Demokratie in guter Ordnung und einer ohne diese: in der ersteren ist man nur gleich, insofern man Staatsbürger ist; in den letzteren ist man auch noch als Beamter, Senator, Richter, Vater, Ehemann und Vorgesetzter allen anderen gleich. Der natürliche Ort der Tugend liegt im Umkreis der Freiheit. Im Umkreis der übertriebenen Freiheit liegt er aber ebensowenig wie im Umkreis der Knechtschaft.“