Reine Raumkunst

Wolfgang Sofsky

Reine Raumkunst

Zwei barocke Baumeister markieren eine Zäsur in der Geschichte der Architektur: Francesco Borromini und Guarino Guarini. Um die ästhetische Wirkung zu erhöhen, arbeitete man im frühen Barock mit einem reichen Instrumentarium: Verdoppelung der Säulen, Verbindung von Säule und Pilaster, Kolossalordnung, also Säulen und Pilaster, die mit Sockel mehr als ein Geschoß zusammenfassen, wiederholte Unterbrechung von Hauptgesims und Ziergiebel, illusionistische Dekoration mit Stuck und Malerei. Borromini brach mit dieser Tradition der welttheatralischen Architektur und konzentrierte sich auf den Raum selbst. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Schritt: Baukunst als reine Raumkunst. Der umbaute Raum ist der Gegenstand jeder Architektur. Der Raum ist nicht länger das leere Zwischenfeld zwischen Wänden, Dächern oder Pfeilern, sondern ein Objekt, das geformt, ausgerichtet, in Bewegung gesetzt und durch mehrere Teilformen zusammengefügt wird. Der Raum als solcher wird in derselben Weise bearbeitet, wie dies die herkömmmliche Baukunst mit Volumen und linearen Strukturen tat. Ziel ist die Errichtung eines ganzheitlichen Raums, einer Synthese von Teilräumen zu einer Einheit, in der die Teile aufgehoben sind. Ein Mittel ist die Kontinuität der Wände ohne trennende Ecken und ohne begrenzendes Gesims, ohne sichtbare Grenzen. Sowohl in der Horizontalen wie in der Vertikalen ist der ideale Raum integriert, d.h. das ideale Modell des integrierten Raums wäre die Kugel. Die Konzentration auf den Raum als solchen gestattet den weitgehenden Verzicht auf Ornamente, Dekor, Gemälde oder Skulptur, auf Farbe. Nicht umsonst sind manche barocke Bauwerke weiße Gebäude.